Buch­re­zen­si­on: Was Vanil­le­eis mit “Adi­po­si­tas” zu tun hat

Adipositas

Ken­nen Sie die­se beson­ders lecke­ren, sah­ni­gen Vanil­le-Eis­sor­ten, an denen man kaum vor­bei kommt? Im brei­ten Spek­trum der medi­zi­ni­schen Fach­li­te­ra­tur gibt es so etwas manch­mal auch – zum Bei­spiel das Werk “Adi­po­si­tas – Ätio­lo­gie, Fol­ge­krank­hei­ten, Dia­gnos­tik, The­ra­pie” von Alfred Wirth. Das umfang­rei­che Buch (438 Sei­ten, 160 Abbil­dun­gen, 60 Tabel­len) behan­delt in sei­ner jetzt erschie­ne­nen drit­ten Auf­la­ge umfas­send einen Groß­teil aller Fra­gen von Health Pro­fes­sio­nals zu dem The­men­kreis, wodurch es im Kon­zert ernäh­rungs- oder sport­me­di­zi­ni­scher Wer­ke mit nur teil­wei­se über­schnei­den­den Inhal­ten unver­zicht­bar wird. Der “sah­ni­ge Effekt” ent­steht vor allem durch die ele­gan­te Ver­knüp­fung des Wie­der­erken­nungs­ef­fek­tes bei prin­zi­pi­ell schon bekann­ten Infor­ma­tio­nen – zum Bei­spiel zur Epi­de­mio­lo­gie oder den Adi­po­si­tas-asso­zi­ier­ten Fol­ge­krank­hei­ten -, mit einer gut les­ba­ren wis­sen­schaft­li­chen Ver­tie­fung des Inhal­tes.

Wie eini­ge hoch­wer­ti­ge Eis­sor­ten, in denen sich noch zusätz­li­che Schich­ten mit kna­cki­ger Scho­ko­la­de ver­ste­cken, ist auch das Buch von Wirth mit Stü­cken und Schich­ten von beson­de­rer infor­ma­tio­nel­ler Dich­te durch­zo­gen. Bei­spiels­wei­se an jenen Stel­len, die poin­tiert oder beim ers­ten Lesen oft kaum merk­bar, zen­tra­le Dog­men der moder­nen Adi­po­si­tas-Wis­sen­schaft in Fra­ge stel­len. Bei­spiels­wei­se, wenn Wirth – qua­si im Vor­über­ge­hen – das Dog­ma von der posi­ti­ven Ener­gie­bi­lanz als zen­tra­ler Ursa­che von Über­ge­wicht mit prä­gnan­ter Dar­stel­lung jahr­zehn­te­lang erho­be­ner bri­ti­scher Ernäh­rungs­da­ten tor­pe­diert (jene zei­gen näm­lich einen 25prozentigen Rück­gang der pro Kopf auf­ge­nom­me­nen Kalo­rien im Ver­lauf von rund 60 Jah­ren). Oder wenn Wirth vor­führt, wie selek­ti­ve Wahr­neh­mung (“bei gerin­ger Belas­tungs­in­ten­si­tät wer­den bevor­zugt Fett­säu­ren oxi­diert”) zu wir­ren Kon­se­quen­zen füh­ren kann (wie zum Bei­spiel die hier­auf auf­bau­en­den “fat burning”-Konzepte mit dem dazu gehö­ren­den mil­lio­nen­fa­chen “low inten­si­ty training”-Gerätepark in ihrer Fol­ge). Natür­lich, so Wirth, gibt es Pati­en­ten, für die sich ein Trai­ning nied­ri­ger Inten­si­tät emp­fiehlt. Grund­sätz­lich gel­te aber eben auch: “Wer sich … höher belas­tet, ver­liert mehr Kör­per­fett und baut mehr Mus­kel­mas­se auf”. Einer der sel­te­nen Fäl­le in der Medi­zin, wo viel eben auch viel hilft. Ein ande­res Scho­ko­la­den­stück­chen betrifft fast eine Selbst­ver­ständ­lich­keit, näm­lich die über­ra­gen­de Bedeu­tung der Tel­ler­grö­ße für die Por­ti­ons­grö­ße. Ein Aspekt, der bei Life­style-Modi­fi­ka­tio­nen oft genug über­se­hen wird. Wer übri­gens ger­ne kol­por­tiert, dass Lipo­suk­ti­on ein pro­ba­tes Ver­fah­ren zur Gewichts­re­duk­ti­on sei, soll­te eben­falls das Werk “Adi­po­si­tas” stu­die­ren. Und zumin­dest den medi­zi­ni­schen Aspekt der Fett­ab­sau­gung bei Adi­pö­sen reka­pi­tu­lie­ren, die kei­ner­lei meta­bo­li­schen Gewinn mit sich bringt. Beson­ders viel Freu­de macht die, wenn auch fast zu kurz gera­te­ne Erwäh­nung der bahn­bre­chen­den Unter­su­chun­gen von Levi­ne et al. zu non­e­xer­cise acti­vi­ty ther­mo­ge­ne­sis (NEAT) mit ihrem gewal­ti­gen Prä­ven­ti­ons­po­ten­ti­al.

Eini­ge Zeit nach dem Genuss des Wirth­schen Wer­kes wird deut­lich, dass es sich bei eini­gen schein­ba­ren “Lecker­bis­sen” um teil­wei­se recht gepfef­fer­te Inhal­te han­delt, deren Schär­fe noch lan­ge vor­hält. So spart der Medi­zi­ner Wirth nicht an Kol­le­gen-Schel­te (“… ein gerin­ges oder kein Fach­wis­sen zur Adi­po­si­tas …”, ” … kei­ne Vor­aus­set­zun­gen … zur effek­ti­ven Behand­lung der Adi­po­si­tas …”), lie­fert eine sta­che­li­ge Über­sicht gän­gi­ger Reduk­ti­ons-Diä­ten oder ent­larvt wesent­li­che Gewichts-Reduk­ti­ons­pro­gram­me als unge­eig­net und/oder nahe­zu wir­kungs­los (“Reha­kli­ni­ken sind in Deutsch­land fast die ein­zi­gen Orte, in denen Adi­pö­se pro­fes­sio­nell ein Aus­dau­er- und Kraft­trai­ning ver­mit­telt wird”). Auch das vor­züg­li­che Kapi­tel über medi­ka­men­tö­se Behand­lungs­stra­te­gien impli­ziert eine har­sche Kri­tik an den Behand­lern – näm­lich den viel zu zöger­li­chen Ein­satz die­ser Opti­on inner­halb einer mul­ti­mo­da­len The­ra­pie­stra­te­gie. Trotz der gele­gent­li­chen Schär­fe und sogar Bit­ter­keit schafft Wirth es aber immer wie­der, die Leser mit sei­nen pro­ak­ti­ven, enga­gier­ten und moti­vier­ten Dar­stel­lun­gen vor the­ra­peu­ti­schem Fata­lis­mus zu schüt­zen, zum Bei­spiel im Kapi­tel “Adi­po­si­tas im Kin­des- und Jugend­al­ter”.

Kri­tisch sei ange­merkt, dass eini­ge bedeu­ten­de Adi­po­si­tas-Aspek­te zu kurz oder über­haupt nicht erwähnt sind, zum Bei­spiel die Set-Point-Hypo­the­se nach Caber­nac et al., die Virus-Adi­po­si­tas-Asso­zia­ti­on nach Atkin­son et al. oder die zuneh­men­den Hin­wei­se auf eine umwelt-toxi­ko­lo­gi­sche Gene­se der Adi­po­si­tas. Dass aktu­el­le Publi­ka­tio­nen wie die Natio­na­le Ver­zehr­stu­die II noch kei­ne – not­wen­di­ge – kri­ti­sche Berück­sich­ti­gung fin­den konn­ten, liegt sicher an den zeit­li­chen Über­schnei­dun­gen bei der Publi­ka­ti­on bei­der Wer­ke. Dass die publi­zie­ren­de Ver­lags­grup­pe der “Adi­po­si­tas-Bibel” jedoch kein aus­rei­chen­des Lek­to­rat spen­diert, ist nicht gera­de eine Ruh­mes­tat (2006 fast 1 Mrd. Euro Umsatz). Die vier­te Auf­la­ge soll­te schließ­lich einen gro­ßen Über­blick über wirk­sa­me Kon­zep­te einer zukünf­ti­gen Adi­po­si­tas-Prä­ven­ti­on bie­ten, um – jen­seits poli­ti­scher oder aka­de­mi­scher Pro­fi­lie­rung ver­schie­dens­ter Inter­es­sen­grup­pen und Per­so­nen – eines der größ­ten gesund­heit­li­chen Pro­ble­me des 21. Jahr­hun­derts lösen zu kön­nen (zum Bei­spiel durch Reduk­ti­on des Fern­seh­kon­sums; Aric Sig­man, 2007).

Autor
• Rai­ner H. Buben­zer, Gesund­heits­be­ra­ter, Ber­lin, 16. Juni 2008.
Quel­le
• Alfred Wirth
Adi­po­si­tas – Ätio­lo­gie, Fol­ge­krank­hei­ten, Dia­gno­se, The­ra­pie (3. Aufl.)
Sprin­ger Medi­­zin-Ver­­lag, Hei­del­berg, 2008.
ISBN: 978–3‑540–68077‑2, EUR 64,95 (gebun­de­ne Aus­ga­be)
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