Fast alle Menschen halten ihr Körpergewicht über lange Zeiten stabil – trotz kurzzeitiger Änderungen von Energieaufnahme oder Energieverbrauch, egal ob sie normalgewichtig, übergewichtig oder adipös sind. Dies entspricht anderen biologischen bekannten Messgrößen, wie zum Beispiel Blutdruck, Körpertemperatur, Blutzusammensetzung, Atemgeschwindigkeit oder Herzschlag. Deshalb wurde schon vor vielen Jahrzehnten die sogenannte Sollwert-Theorie des Körpergewichts formuliert (set point theory). Nach dieser Vorstellung nimmt eine zentrale Regel-Einrichtung – der Ponderostat – gewichtsrelevante Signale des Körpers auf, verarbeitet sie und stellt dann das Körpergewicht auf einen konstanten Wert ein, eben den Sollwert. Dieser Ponderostat (ponder‑, lat. Gewicht; ‑stata, lat. stehend) kann mit einem Heizungsthermostaten vergleichen werden, der trotz ändernder Bedingungen eine einmal eingestellte Zimmertemperatur konstant hält.
Die Sollwert-/Ponderostat-Theorie erklärt viele Beobachtungen zum Erhalt eines stabilen Körpergewichts auch unter stark wechselnden Bedingungen:
- bei Adipösen und Normalgewichtigen kommt es während einer Reduktion bzw. Erhöhung der Körpermasse zu einer kompensatorischen Verminderung bzw. Erhöhung des Energieumsatzes.
- Versuchstiere bevorzugen bei einer Gewichtsabnahme durch erhöhte Aktivität vor allem fettreiches Futter und zuckerhaltiges Wasser.
- Versuchstiere mit zeitlich begrenztem Futterzugang beginnen Futter zu horten, wenn ihr Körpergewicht unter den Sollwert fällt.
- bei Personen, die durch Reduktions-Diät und/oder vermehrten Energieverbrauch abgenommen haben, kommt es oft zum Jo-Jo-Effekt, also einer raschen und manchmal überschießenden Normalisierung des Körpergewichts nach Diät-Ende.
Unbekannt ist bis heute, wo der Ponderostat lokalisiert ist und welche Körpersignale das Regelsystem über das das aktuelle Gewicht informieren. Mögliche Mechanismen der Gewichtsregulation hingegen sind bekannt: Veränderungen von Grundumsatz, Appetit, Essmenge, Nährstoff-Extraktion im Darm, Körpertemperatur oder viele andere Effekte.
Kritik an der Sollwert-/Ponderostat-Theorie
Obwohl die Sollwert- oder Ponderostat-Theorie viele Beobachtungen im Zusammenhang mit Übergewicht und Adipositas gut erklärt, wird sie in der Adipositas-Forschung eher ignoriert. Der Grund: Dem simplen Erklärungs-Schema für die Entstehung von Übergewicht – entweder zu viel Essen und/oder zu wenig körperliche Aktivität oder „genetische Ursachen“ – widerspricht die Theorie fast völlig. Zudem folgt aus der Ponderostat-Theorie die zwingende Frage, was denn den Gewichtsregler bei so vielen Milliarden Menschen im Verlauf der Adipositas-Pandemie weltweit hochregelt.
Und hier prallen von erheblichen finanziellen Interessen gesteuerte Meinungen aufeinander: Die Lebensmittel-Industrie präferiert grundsätzlich die Vorstellung, Übergewicht sei genetisch bedingt – egal, ob nun mit Hilfe eines Ponderostaten oder nicht. Die Wissenschaftler, ihre Institute, die Ernährungsberater, Psychologen oder die ganze Abnehm-Industrie präferieren hingegen die Vorstellung, die Dicken dieser Welt würden sich individuell falsch verhalten und seien deswegen dick geworden.
Die Ponderostat-Theorie widerspricht beiden Annahmen. Sie kommt letztlich zu der Aussage: Übergewicht und Adipositas sind Ausdruck einer chronischen Erkrankung, deren wesentliches Symptom ein zu hohes Körpergewicht ist, das durch einen hochgestellten Sollwert im Ponderostat dauerhaft erhöht geregelt bleibt. Die Erkrankung jedoch hat eine Reihe verschiedenster Ursache – in der Vergangenheit der Betroffenen -, wie Schädigung der Darmflora, virale Infektionen, Zuckerkonsum, Medikamente, Ballaststoff-Mangel, Süßstoffe und Light-Produkte, Stress und so weiter und so fort (sogenannte multimodale Verursachung). Bei den meisten Betroffenen bestehen die Ursachen schon lange nicht mehr. Dennoch bleibt ihr Ponderostat weiter hochgeregelt (sogenannte chronische Erkrankung, wie auch zum Beispiel chronische Kopfschmerzen).
Vor dem Hintergrund, dass seit Jahrzehnten nahezu alle Abnehmprogramme weltweit erfolglos geblieben sind und bleiben, bietet die Ponderostat-Theorie einen Ansatz, dieses Versagen zu verstehen und Wege aus dem Dilemma heraus aufzuzeigen. Die ersten Schritte sind sicher: Vorurteile abbauen (Dicke und Adipöse sind selbst schuld) und richtige Fragen nach den Ursachen und der Chronifizierung stellen. Die Sollwert-/Ponderostat-Theorie hilft bei diesem Verständnis weiter und zeigt die wesentliche Frage auf: Wie kann der Ponderostat-Sollwert nachhaltig wieder auf einen normalen, gesunden Wert gestellt werden?
Autor
• Rainer H. Bubenzer, Gesundheitsberater, Berlin, 22. August 2015.
Bildnachweise
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Quellen
• Cabanac M, Duclaux R, Spector NH: Sensory feedback in regulation of body weight: is there a ponderostat? Nature. 1971 Jan 8;229(5280):125–7 (Kurzfassungen: DOI | PMID).
• Wiedmer P: Geschlechtsspezifische Körpergewichtsregulation bei Mäusen: Untersuchungen zur Set-point-Theorie der Körpermasse. Dissertation, Universität Potsdam, 14.2.2005 (urn:nbn:de:kobv:517–0001733, Volltext/PDF).